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“Ost-Jerusalem wird immer stärker judaisiert”

von Mario Dobovisek, Deutschlandfunk, 28. Oktober 2015.
Die
neue Welle der Gewalt in Israel gehe von einer “verlorenen Generation”
junger Palästinenser aus, sagte Tsafrir Cohen von der
Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv im DLF. Die Menschen seien
frustriert durch alltägliche Erniedrigungen und Perspektivlosigkeit. So
werde es Palästinensern etwa immer schwieriger gemacht, nach
Ost-Jerusalem einzureisen.
Tsafrir Cohen im Gespräch mit Mario Dobovisek
Ausschreitungen in Hebron im Oktober 2015 (picture alliance / dpa / Abed Al Hashlamoun)
Ausschreitungen in Hebron im Oktober 2015 (picture alliance / dpa / Abed Al Hashlamoun)
In
Israel finde eine “Entrechtung der Palästinenser” und eine
“fortwährende Besatzung der Palästinensergebiete” statt, sagte Cohen,
der die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv leitet. “Es überrascht uns
alle nicht, dass jetzt, in einer Zeit, wo es überhaupt keine Visionen
gibt, wie dieser Konflikt zu lösen ist; dass die Menschen frustriert
sind und durch die alltäglichen Erniedrigungen, die sie erleben, dass es
tatsächlich dann zu einer Explosion kommt.”
Solche Erniedrigungen
müssten Palästinenser an Checkpoints der israelischen Armee über sich
ergehen lassen, sagte Cohen. Es gebe außerdem keine Möglichkeit, eine
Wirtschaft zu entwickeln. “Die Stadt Ost-Jerusalem, die die
Palästinenser für ihre Hauptstadt erklären wollen, wird immer stärker
judaisiert.” Für Palästinenser sei es immer schwieriger in dieses Gebiet
aus der Westbank einzureisen. Diese Entwicklungen kämen “peu á peu” bei
der Bevölkerung an.
“Präsident Abbas ist einer der einzigen hier
in der Region, der versucht zu deeskalisieren”, sagte Cohen.
“Offensichtlich funktioniert das nicht.” Palästinenserpräsident Mahmud
Abbas könne nicht noch stärker gegen diesen Aufstand der “verlorenenen
Generation” sprechen. Sonst schwäche er seine Position. Der Aufstand sei
jedoch keine geplante Intifada. Vielmehr handele es sich um “spontane
Attentate”, um “Einzelattentäter, die einfach rausgehen und jemanden
abstechen”.

Das Interview in voller Länge:

Mario Dobovisek:
Die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis eskaliert seit fast
zwei Wochen und die Zahl der Messerangriffe nimmt stetig zu. Bisher
kamen vier Israelis und 25 Palästinenser ums Leben, darunter sieben
mutmaßliche Messerangreifer und acht Kinder. Israelis Staatspräsidentin
Rivlin warnt davor, den Konflikt zu einem Religionskrieg zu machen, und
blickt dabei, so wörtlich in ihrer Mitteilung gestern, in den Abgrund
der abgeschlachteten Minderheiten in Syrien und im Irak. – Am Telefon
begrüße ich Tsafrir Cohen, Leiter der linksnahen Rosa-Luxemburg-Stiftung
in Tel Aviv. Guten Morgen, Herr Cohen.
Tsafrir Cohen: Guten Morgen.

Dobovisek:
Aus den Palästinenser-Gebieten hören wir bereits das Stichwort
Intifada. Bahnt sich im Nahen Osten dieser Tage der dritte große
Aufstand der Palästinenser an?
Cohen: Viele
sprechen von Intifada unter den sogenannten Experten. Wir wissen es
nicht. Wir wissen nicht, wie Volksaufstände stattfinden, wann sie
anfangen und ab wann sie eine Intifada sind, und bis wann sind sie
einfach ein Aufstieg der Gewalt.
Dobovisek: Warum häufen sich die Angriffe gerade jetzt?
Cohen:
Wir wissen es nicht genau. Die Zustände in Jerusalem sind seit Langem
extrem schwierig und wir haben es eigentlich damit zu tun, mit einer
Situation der Entrechtung der Palästinenser auf der einen Seite und
eines Versuchs seitens der israelischen Regierung und Israels,
eigentlich weiter so zu leben wie gehabt, und das kommt irgendwann mal
zusammen. Das Problem, das wir im Hintergrund haben, ist die Entrechtung
der Palästinenser und die fortwährende Besatzung der
Palästinenser-Gebiete.
Dobovisek: Das kommt
irgendwann mal zusammen, sagen Sie. Ist das eine plötzliche Eruption der
Gewalt, oder hat es sich im Grunde schon lange abgezeichnet, nur wir,
wir in Deutschland zum Beispiel, haben es vor lauter Flüchtlingen,
Syrien und Ukraine schlichtweg übersehen?
Cohen:
Erst einmal überrascht es uns alle. Aber es überrascht uns immer, wenn
es zu Gewalttätigkeiten kommt. Die Frage ist, was der tatsächliche
Hintergrund ist, und ich denke, das überrascht uns alle nicht, dass
jetzt in einer Zeit, wo es überhaupt keine Vision gibt, wie dieser
Konflikt zu lösen ist, dass die Menschen frustriert sind durch die
alltäglichen Erniedrigungen, die sie erleben, dass es tatsächlich dann
zu einer Explosion kommt.

“Sie können nicht eine Erdbeere exportieren ohne Israels Hilfe”

Dobovisek: Wie sehen diese Erniedrigungen aus?
Cohen:
Schauen wir uns das einfach an, wie Palästinenser in den besetzten
Gebieten leben. Sie können nicht eine Erdbeere exportieren ohne Israels
Hilfe. Sie können von einem Ort zum anderen nicht gehen. Die Stadt
Ostjerusalem, die die Palästinenser für ihre Hauptstadt erklären wollen,
wird immer stärker judaisiert. Es wird immer schwieriger für Menschen
aus den besetzten Gebieten, da reinzugehen, das heißt aus der Westbank
nach Jerusalem zu kommen, vom Gazastreifen ganz zu schweigen. Das sind
ein paar Beispiele der alltäglichen Erniedrigungen an Checkpoints. Die
fehlende Möglichkeit, dass eine Wirtschaft sich dort entwickelt in
diesen Rahmenbedingungen, das alles kommt peu à peu bei den Leuten an
und führt natürlich zu Frustration. Wir sprechen jetzt von einer jungen
palästinensischen Generation, die wir die verlorene Generation nennen.

“Keine geplante Intifada”

Dobovisek: Wer sind diese palästinensischen Attentäter? Gehören die zu dieser verlorenen Generation?
Cohen:
Ja, sie gehören dazu. Man sieht das. Man sieht auch, dass das keine
geplante Intifada oder kein geplanter Aufstand ist. Gestern zum Beispiel
gab es fünf Messerattentate im Großraum Jerusalem. Von denen waren drei
minderjährig, der eine 13-jährig, ein Mädchen 16-jährig und noch ein
Junge 18-jährig.
Dobovisek: Das bedeutet?
Cohen:
Das bedeutet, dass wir es hier nicht mit einer geplanten Intifada zu
tun haben, dass die palästinensische Führung, sprich jemand wie Abbas,
nicht in der Lage sind, diese Menschen zu kontrollieren. Das passiert
mit Einzelattentätern, die einfach rausgehen und jemand abstechen. Die
Tatsache, dass diese Messerstiche auch nicht dazu führen, dass viele
Leute ums Leben kommen, Gott sei Dank, hängt damit zusammen, dass das
offensichtlich eher spontane Attentate von nicht professionellen
Menschen sind, die nicht geübt sind in der Ausführung von Attentaten.
Dobovisek:
Ein Aufstand von unten sozusagen. Wie viel Einfluss hat dann überhaupt
noch die palästinensische Führung, um möglicherweise es auch zu stoppen?
Cohen:
Der Präsident Abbas ist einer der einzigen hier in der Region, die
versuchen, die Lage zu deeskalieren, und offensichtlich funktioniert das
nicht. Er spricht die ganze Zeit davon, dass Gewalt nicht der Weg ist,
sondern die Internationalisierung des Konfliktes, sprich, dass die
Weltgemeinschaft, die sogenannte, tatsächlich Einfluss nimmt und eine
Zwei-Staaten-Lösung und damit eine Zukunft für die Palästinenser
ermöglichen soll. Das ist aber bislang nicht passiert. Im Gegenteil: Die
Palästinenser haben dieses Jahr nur erlebt, dass die internationale
Gemeinschaft sie erst einmal hinten anstellen, weil andere Sachen
wichtig sind und weil man nicht bereit ist, den Konflikt zu
internationalisieren, weil damit man in einen Konflikt gerät mit der
israelischen Regierung.
Dobovisek: Welches starke Signal müsste Abbas an seine eigenen Leute jetzt aussenden?
Cohen:
Das Problem ist, dass Abbas schon jetzt dagegen spricht, wenn er noch
stärker gegen diesen Aufstand spricht und keinen Rückhalt in der
Bevölkerung bekommt, dass seine eigene Position natürlich geschwächt
wird. Das heißt, er kann eigentlich sehr wenig tun, mehr als das, was er
jetzt tut.

“Starke Hysterisierung durch die Medien und durch die wirklich nicht angemessenen Mitteilungen der Regierung”

Dobovisek:
Schauen wir auf die andere Seite. Es gibt auch durchaus eine
Radikalisierung unter jüdischen Siedlern, die wir beobachten müssen.
Unser Korrespondent in Tel Aviv hat uns letzte Woche erzählt, es gäbe
einen nationalistischen Rassismus, für den auch durchaus die Regierung
in Jerusalem mitverantwortlich sei. Sehen Sie das ähnlich?
Cohen:
Ja, unbedingt. Die Rechtsradikalen in Israel sind Teilhaber an der
Macht. Die Regierung Netanjahu ist von ihnen abhängig. Und die
Likud-Partei selber, sprich die Regierungspartei Netanjahus, ist auch
von rechten Kräften durchzogen. Sie hetzen auf und haben gleichzeitig
keine Lösung für das Problem. Ich gebe Ihnen nur ein paar Beispiele:
Zehntausende von Facebook-Einträgen hetzen gegen Palästinenser, sagen
“Tod den Arabern”. Das gibt es auch auf der anderen Seite übrigens. Aber
die Situation ist hysterisiert und die Menschen werden immer weiter
hysterisiert durch Medien, die die ganze Zeit im Wiederholungsloup
zeigen, wie irgendjemand abgestochen worden ist, durch verschiedene
Arten der sozialen Netzwerke, die einfach weiterhetzen. Die Hetze kommt
sowohl von oben als auch von der eigenen Bevölkerung über die sozialen
Medien. Gleichzeitig spricht ein Bürgermeister von Jerusalem davon, dass
alle Männer, die eine Waffe haben, eigentlich die Waffe bei sich tragen
sollen. Die Hysterie wirkt und wir haben es hier eigentlich in Israel
mit einer sehr gemischten Situation zu tun, in der einerseits die
Menschen das Wohlleben in Israel weiterleben wollen. Die Besatzung
existiert hier zum Beispiel in Tel Aviv ja nicht. Wir wissen hier nicht,
was 40 Minuten mit dem Auto entfernt passiert in den besetzten
Palästinenser-Gebieten. Hier sieht es so aus wie in jeder europäischen
Stadt. Es passiert nichts. Auf der anderen Seite gibt es eine starke
Hysterisierung durch die Medien und durch die wirklich nicht
angemessenen Mitteilungen der Regierung.
Dobovisek:
Die Hysterie auf der einen Seite, den Aufstand von unten auf der
anderen Seite, und mittendrin eine fehlende Vision. Ist das das Ende der
Zwei-Staaten-Lösung?
Cohen: Das Ende der
Zwei-Staaten-Lösung? Noch mal: Wir wissen nicht, wo dieser Punkt
erreicht ist. Das Problem, das wir hier haben, ist, dass es immer
schwieriger wird. Was wir hier haben, ist eine weitere, immer weiter
fortwährende und sich vertiefende Kolonisierung der Westbank, also des
größeren Brockens der Palästinenser-Gebiete. Die andere Seite ist ja der
Gazastreifen, der ja komplett abgeriegelt ist seit acht Jahren. Und
diese vertiefte Kolonisierung bedeutet, dass eine Teilung dieses kleinen
Gebietes – wir sprechen hier von 26.000 Quadratkilometer, Israel plus
Palästina zusammen, etwa die Größe von Hessen -, dass die Teilung dieses
Landes in ein Israel und in ein Palästina immer weniger möglich
erscheint und der politische Kraftakt, der vollzogen werden muss, immer
größer sein muss. Wir sprechen heute von über 500.000 jüdischen Siedlern
in der Westbank und in Ostjerusalem, und das ist problematisch.
Dobovisek:
Wir müssen langsam zum Ende kommen. Vielen Dank für die Eindrücke, die
Sie uns schildern, Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel
Aviv. Ich danke Ihnen.
Cohen: Ich danke auch.
Äußerungen
unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der
Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in
Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.