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Der israelisch-palästinensische Konflikt ist kein religiöser Konflikt – Khaled Diab


Khaled Diab خالد دياب


Übersetzt von 
Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس



Herausgegeben von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی


Auch
wenn ihn religiöse Extremisten „Heiligen Krieg“ nennen, geht es im
israelisch-palästinensischen Konflikt nicht um Religion, sondern um
säkulare Angelegenheiten wie Land, Ungerechtigkeit und Identität.

Ist der israelisch-palästinensische Konflikt ein religiöser Konflikt?
Die vor kurzem verübten terroristischen Anschläge und die Zusammenstöße
auf dem Tempelberg lassen dies zwar verboten. Aber das ist etwas ganz
Anderes als ein Heiliger Krieg.

Das palästinensisch-Israelische Journal, eine akademische
Veröffentlichung, die sich der Erforschung des Konfliktes widmet,
organisierte vor kurzem eine Diskussion am runden Tisch über genau
dieses Problem: ob dieser Konflikt ein religiöser oder nationaler ist.
Die Runde – mit israelischen, palästinensischen und ausländischen
Teilnehmern aus dem akademischen Bereich, den Medien, den geistlichen
Kreisen und der Gemeinschaften der Aktivisten – war bei dieser Frage
äußerst geteilt.

Meine eigene Version der Dinge ist folgende: was in Israel-Palästina
geschieht, ist im Wesentlichen ein säkular-nationalistischer Konflikt um
Land, Ungerechtigkeit und, im geringeren Maße, um Identität. Dies kann
man anhand der PLO-Charter nachweisen. Während das Dokument wiederholt
die Worte „arabisch“, „palästinensisch“ und Nationalismus erwähnt,
wird nicht einmal auf Religion hingewiesen. Am nächsten kommt man dazu,
wenn eine „materielle, spirituelle und historische“ Verbindung zu
Palästina hergestellt wird.

Die zweite bedeutendste politische Kraft im palästinensischen Kampf
nach der Fatah war jahrzehntelang die marxistisch-leninistische Populäre
Front für die Befreiung von Palästina, gegründet von George Habasch,
der aus einer christlichen Familie stammte. Viele ihrer Mitglieder
waren Atheisten; die „Kameraden“ von Hamas berichten von ihnen, sie
würden Folgendes behaupten: „Das Paradies ist hier auf Erden und nicht
im Jenseits. Palästina ist das Paradies.“

Ähnlich war es mit dem politischen Gründer des Zionismus Theodor
Herzl – er war ein säkularer Agnostiker und vielleicht sogar ein
Atheist. Israels Gründungs-generation war gegen die Religion und
überzeugt, dass das Judentum am Aussterben war, wie der alte
Friedensaktivist Uri Avnery erinnert.

Viele Palästinenser und Araber können diese Auffassung kaum
verstehen oder akzeptieren. „Judentum ist eine Religion und der
Zionismus versucht, einen jüdischen Staat aufzubauen – so geht es auch
den Israelis: „Dies ist ein religiöser Konflikt“, bemerkt Ibrahim, ein
Freund. Diese Auffassung wird auch in der PLO-Charter: „Judentum, das
eine Religion ist, ist keine unabhängige Nationalität, noch stellen die
Juden eine einzige Nation mit einer eigenen Identität dar.“

Infolge ihrer Enteignung und der Tatsache, dass Juden selbst keine
einheitliche Meinung darüber vertreten, ob Jüdisch-Sein eine Frage der
Religion oder der Ethnizität ist, ist diese Unübersichtlichkeit für
Palästinenser vollkommen unverständlich.

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Der Krieg: „’Seufz’, wo wäre ich ohne Dich?“

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, als viele Juden und Araber
glauben: diese Verwischung der Trennlinie zwischen Ethnizität und
Glaube, ist, wie irrational sie auch für unsere Vernunft erscheinen mag,
nicht einmalig für das Judentum. Die Tatsache, dass die meisten
Weltreligionen in verschiedener Weise und in verschiedenem Grad
vererblich sind, untermauert die These, nach der die Zugehörigkeit nicht
nur vom Glauben, sondern auch von der Herkunft abhängt. Außerdem ist
die Vorstellung von Religion als „Nation“ für andere Religionen nicht
fremd – im Islam wird sie „Umma“ genannt. Meiner Ansicht nach tendiert
das Religion-Ethnizität–Pendel mehr zum Ethnischen, wenn die religiöse
Gruppe eine Minderheit ist oder sich bedroht fühlt.

Dies war in Südasien der Fall. Ein Jahr vor der Gründung des Staates
Israel, wurde Pakistan aus Indien herausgeschnitten. Sein wichtigster
Gründungsvater Muhammad Ali Jinnah war ein überzeugter Atheist, der den
Islam in ethno-nationalistischer Festsetzung sah. Die „Muselmänner sind
keine Minderheit. Die Muselmänner sind definitionsgemäß eine Nation“,
sagte er 1940 bei einer Demo vor hunderttausend Anhängern.

Doch wie Jinnah benutzten die politischen Führer des Zionismus auch
religiöse Symbole und religiöse Autoritäten, um ihre säkulare Agenda
voran zu bringen. Herzl gab seine pragmatische Bereitschaft, irgendwo,
sogar in Uganda, einen jüdischen Staat zu gründen, zugunsten von
Palästina auf.

Außerdem schmiedete Herzl einfachheitshalber Verbindungen mit William
Hechler und anderen christlichen Zionisten, die bei ihm ein schlechtes
Gefühl hinterließen. „Hechler erklärte, meine Bewegung sei eine
biblische, obwohl ich in allen Punkten rational voranging“, vertraute
Herzl seinem Tagebuch an.

In ähnlicher Weise griffen säkulare Führer – islamische und in
geringerer Weise christliche – auf religiöse Symbole und Worte zurück,
um der zionistischen Expansion zu widerstehen und eine breitere
Anhängerschaft zu finden. Dies zeigt sich beispielsweise in der Nutzung
des Felsendoms als besonders ergreifendes Symbol der Streitsache. Andere
Beispiele schließen den religiös aufgeladenen Terminus „Fedayeen“
ein, der buchstäblich bedeutet „Jene die sich (für Gott) opfern“ , die
die palästinensischen Kämpfer beschreiben. In dieselbe Kategorie fällt
Yasser Arafats Wahl, seine Bewegung Fatah (Abkürzung für
palästinensische Befreiungsbewegung), die im Arabischen auch die frühen
islamischen Eroberungen meint, zu nennen.

Es handelt sich somit nicht um ein einzigartiges Phänomen. Ob
Unterdrückte oder Unterdrücker, Eroberte oder Eroberer, man tendiert
dazu, mit wenigstens einem religiösen Diskurs anzukommen, um die
Herrschaft zu rechtfertigen oder um Widerstand gegen sie zu leisten. Und
wo dies nicht der Fall ist, wird Nationalismus selbst zu einer
Pseudo-Religion erhoben.

Doch über die Jahrzehnte hat sich auf beiden Seiten ein paralleler
Prozess entwickelt. Der 1967er-Krieg war diesbezüglich ein
entscheidender Moment: das „Wunder“, das den religiösen Zionismus vom
Rand ins Zentrum rückte. Auf der arabischen Seite brachte die
vernichtende Niederlage dem säkularen, revolutionären arabischen
Nationalismus einen tödlichen Schlag, von dem er sich nicht mehr
erholte. Islamisten haben langsam diese Lücke gefüllt.

Dies spiegelt wieder, wie der religiöse Aspekt des Konfliktes
innerhalb jeder Gesellschaft ein ziviler Konflikt ist. Dies geschieht
vor allem, wenn es zwischen beiden Seiten um eine Schlacht um die Seele
beider Nationen geht.

Trotz des wachsenden Glaubenseifers religiöser Fundamentalisten bleibt
die säkulare Grundlage dieses Konfliktes aber bestehen: Land,
Ressourcen, Rechte und Würde. Doch wie die Situationen in Syrien, dem
Irak und dem Jemen zeigen, wo sich das Mantra des Heiligen Krieges
wiederholt, kann dies zu einer sich selbst erfüllenden Prophetie werden.
Und genau dieses unheilige Ergebnis müssen wir im Heiligen Land
vermeiden.