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Alle Kinder haben Recht auf Fußball – Hatem Bazian über die Bakr-Kinder

Gestohlene Kindheit: eine palästinensische Geschichte


Hatem Bazian حاتم بازيان


Übersetzt von 
Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس


Die
Welt ist unglaublich gleichgültig gegenüber dem palästinensischen Leid
und stellt diese Politik der Gleichgültigkeit Tag für Tag neu unter
Beweis.


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Ismail, Zakaria, Ahed und Mohamed sind vier Namen, die zufällig
erscheinen und keine besondere Bedeutung für den Durchschnittsmenschen
hat.
Doch diese vier Namen sind im Bewusstsein der Palästinenser eingeprägt wie kaum andere.
Sie sind die Kinder der Bakr-Familie – sie waren alle zwischen neun
und elf Jahre alt. Ich nehme es euch nicht übel, wenn ihr euch nicht an
diese Namen erinnert.
Die Wahrheit ist, dass palästinensische Namen, Familien und
Gesichter in einer Welt, deren allgemeine Meinung und allgemeines
Bewusstsein von einem Nachrichtenzirkel von 24 Stunden bestimmt wird,
nicht im Kopf bleiben.
Ihre Geschichte wurde nicht verbreitet. Ihrem Verlust wurde keine menschliche
Note gegeben und mit ihren Lieben wurde kein Interview geführt. So
erfuhr auch niemand von ihrer Freude, ihren Träumen oder ihren Wünschen.
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Vor einem Jahr wurde der 16jährige palästinensische Junge Mohammed
Abu Khdeir von jüdischen Extremisten in Jerusalem als Racheakt lebend
verbrannt.
Am letzten Freitag, wurde der Jahrestag von Abus Khdeirs Tod durch
die Verbrennung des 18 Monate alten Babys Ali Saad Dawabsheh durch einen
Brandanschlag von Siedlern auf die Wohnung der Familie in Duma
markiert.

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Die Wahrheit ist, dass wir den Verlust von palästinensischem Leben
nicht betrauern. Wir erinnern uns nicht an die Familien, die Häuser und
Schulen, die systematisch ausgelöscht werden und auch nicht an die
Krankenhäuser und Krankenwagen, die chirurgisch gezielt angegriffen
werden und auch nicht an die unzähligen Mordopfer, die getötet wurden,
während sie nur ihr Leben leben wollten.
Die Tötung des Löwen Cecil erfuhr mehr globale Aufmerksamkeit und
Aufrufe zu genauen Untersuchungen als der Mord an den Bakr-Kindern, an
Abu Khdeir und an den 18 Monate alten Ali.
Die Welt ist überwältigend gleichgültig gegenüber dem
palästinensischen Leid und stellt diese Politik der Gleichgültigkeit
tagtäglich neu unter Beweis.
Systematisches Auslöschen
Doch wie können wir dies tun? Wie können wir – unser globales
Bewusstsein – ja, unsere Augen von dem ständigen und systematisch
zugefügten palästinensischen Leid abwenden?
Wie rechtfertigen wir, dass Israel 6000 palästinensische politische
Gefangene – wovon einige erst 11 Jahre alt sind – festhält und eines
von vier Mitgliedern des palästinensischen Parlaments in Haft behält?
Wie erklären wir die unverhältnismäßige Antwort von Diplomaten, die
nach Gaza strömen, um nach einem einzigen Soldaten, der nach Israels
Sommerangriff auf dem Gazastreifen gefangen genommen wurde, zu suchen?
Wo bleiben denn die Delegationen, die versuchen, die 1,4 Millionen
Palästinenser aus dem Freiluftkonzentrationslager des Gazastreifens zu
befreien?
Ich komme vor lauter Frust vom Thema ab. Aber die Bakr-Kinder haben einen Augenblick des Gedächtnisses verdient.
Sie spielten an einem sonnigen Tag am Strand Fußball – eine kurze
Atempause einer Kindheit in Gaza, die imminent von der Unterdrückung,
Angst und Gewalt gekennzeichnet ist – als eine israelische Rakete in ihr
Spiel einbrach.  
Die Journalisten, die kurz davor mit den Kindern Fußball gespielt hatten, wurden zu Zeugen dieses Blutbades.
Sie bezeugten, dass in dem Gebiet keine militärischen Tätigkeiten
ausgeübt wurden. Das israelische Militär hält aber doch palästinensische
Kämpfer für diesen Vorfall verantwortlich – sie seien nämlich das wahre
Ziel gewesen.
Weder das erste, noch das letzte Mal
Dies ist weder der erste noch der letzte Mord, der vom israelischen
Militär am helllichten Tag bei laufender Kamera begangen wird, ohne
dass es für dessen Handlungen zur Rechenschaft gezogen wird.
Der gewalttätige Verlust dieser vier Kinder belastet weiterhin mein eigenes Gewissen.
Auch ich spielte in meiner Kindheit und Jugend Fußball. Jeder freie Raum, der Hof und das Treppenhaus, war mein Fußballfeld.
Für mich und die Freunde meiner Kindheit wurde jede freie Zeit vor
und nach der Schule zu einem erholsamen Spiel, mit einer metaphorischen
Halbzeit, die den Gebeten in der nahen Moschee genutzt wurde.
Der Fußball machte jeden auf dem Feld ebenbürtig und verband alle
Kinder der Nachbarschaft. Wir legten oft unser Kleingeld zusammen, um
gemeinsam einen neuen Ball zu kaufen.
Als Kriegskinder hielten uns Proteste und politische Unruhen nicht
vom Spielen ab. Für jene Spielmomente waren wir in der Lage, die
gewaltsame Welt um uns zu vergessen und frei hinter dem Ball
herzulaufen.
Die Feuerpausen waren immer eine Gelegenheit, um ein schnelles
Spiel zu beginnen und etwas von unserer angespannten Kindheitsenergie
nach langen Stunden, in denen wir uns hinter geschlossenen Türen im
Keller versteckt hatten, während draußen die Kämpfe tobten.

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Eine erschreckende Wahrheit
Die erschreckende Wahrheit ist, dass die Bakr-Kinder hätten meine
Freunde sein können. Sie hätten meine Familie sein können. Auch ich
hätte tragischer Weise mein Leben verlieren können, während ich lachend
und rennend an einem ruhigen und sonnigen Tag am Strand spielte.
Der Verlust der Bakr-Kinder ist wirklich nur ein weiterer Tropfen
im Meer der israelischen Ungerechtigkeit. Ihr Fall wird in der Menge der
Beweise gegen Israel und seine illegale Besatzung untergehen. Aber wenn
die Welt die Bakr-Kinder vergisst, Palästina wird sie nicht vergessen.
Wo wir uns nun dem ersten Jahrestag der letzten israelischen
Offensive gegen Gaza nähern, muss die Welt gerade jetzt die Bemühungen
wie Boycott, Divestment und Sanktionen unterstützen.
Die Fakten sind klar. Der letzte Angriff auf Gaza war der dritte in
acht Jahren – 1,4 Millionen Palästinenser wurden belagert. Innerhalb
von 50 Sommertage von 2014  führte Israel mehr als 6000 gezielte
Luftanschläge gegen Wohn- und andere Gebäude.
Nach dem Bericht der UN-Nothilfekoordination (OCHA) hatten 142
Familien drei oder mehr Mitglieder bei der Zerstörung von Wohngebäuden
verloren. Im Ganzen gab es 742 Todesfälle.
Nach dem UN-OCHA-Bericht lag die palästinensische Todesrate in Gaza
bei 2220, wovon 1492 Zivilisten, einschließlich 551 Kinder und 200
Frauen.
Völlig unverständlich
Der Anteil der zivilen Todesfälle liegt bei 70%. Es ist
unverständlich, wie ein Regime mit solchen Brutalitäten ungestraft davon
kommen kann. Wer macht Israel dafür verantwortlich?
Neben dem Morden und Verstümmeln von Palästinensern beschädigten
die Israelis im Gazastreifen 9644 Häuser schwer und rund 90 000
teilweise.
Gegenwärtig leben noch 100 000 Gazaner als Flüchtlinge in ihrem
eigenen Land oder  in ihren gefährlich beschädigten Häusern,  um
wenigsten ein wenig Schutz zu haben. Kein Wiederaufbau oder Hilfe in
Gaza ist erlaubt worden. Jeder Versuch des Wiederaufbaus und der
Verbesserung wurde schon im Keim erstickt.
Wenn man es aus politischem Vorteil auf Kinder absieht und diese
ermordet, muss entschieden und mutig gehandelt werden. Wir können nicht
einfach zusehen, wie eine solche Ungerechtigkeit weitergeht.
Jetzt wo wir den ersten Jahrestag von Israels letztem Angriff in
Gaza begehen, müsste die Welt mehr denn je die Bemühungen wie Boykott,
Divestment und Sanktionen (BDS) unterstützen. Verfahren müssten
aufgenommen werden, um Israel für das Leiden von Millionen
verantwortlich zu machen.
Die internationale Aufmerksamkeit muss dringend auf die Notlage der
Palästinenser gelenkt werden. Ganz einfach: Kinder müssen Kinder sein
dürfen. Sie dürfen nicht in Angst leben, in Kellern kauern, um sich vor
Geschützfeuern zu schützen. Sie dürfen auch keine Angst haben, ihre
Spiele zu spielen und zu laut zu lachen oder in der Sonne zu laufen.
Die Geschichte der Bakr-Kinder ist ein Denkmal für die
Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem palästinensischen Leiden. Die
Kinder und das gesamte palästinensische Volk haben Gerechtigkeit
verdient.

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