General

Uri Avnery: Ich bin eine Griechin


 Liebe Leserinnen und Leser,

ein ganz schöner Kommentar, ein wenig ironisch und vor allem unwissend ganz im Sinne Sokrates’, verfasst vom israelischen Friedensaktivisten und ehemaligen Parlamentarier Uri Avnery.

Lesen Sie selbst. 
Sein Skeptizismus einher mit der Hoffnung, ein verlorenes Spiel zu gewinnen, überzeugt mich.

dankend

Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.

JEDER HAT
schon seine (ihre) Meinung zur griechischen Krise geäußert, egal ob er  (oder sie) eine Meinung dazu hat. Ich fühle
mich gezwungen, dasselbe zu tun.
Die Krise
ist ungeheuer kompliziert. Doch mir scheint sie, ganz einfach zu sein.
Die Griechen
haben mehr Geld ausgegeben, als sie verdienen. Die Gläubiger wollen  mit unglaublicher Unverschämtheit ihr Geld
zurück haben. Die  Griechen haben kein
Geld,  und sowieso erlaubt es ihr Stolz
nicht, die Schulden zurückzuzahlen.
Also was
tun? Jeder Kommentator, vom Wirtschaftsfachmann, der den Nobelpreis gewann, bis
zu meinem Taxifahrer in Tel Aviv hat eine Lösung. Leider hört keiner auf sie.
Angela
Merkel und Alexis Tsypras  kämpfen den 2.
Weltkrieg weiter. Aber die Beziehungen zwischen den beiden Nationen spielten in
meiner Familie schon lange vorher eine Rolle.
ALS JUNGE
war mein Vater ein Schüler in einem deutschen „Humanistischen Gymnasium“. In
diesen Schulen lernten die Schüler Latein und Altgriechisch, statt Englisch und
Französisch.  So hörte ich lateinische
und griechische Sprichwörter, bevor ich selbst zur Schule ging und lernte auch
ein halbes Jahr Latein, bevor wir zum Glück Deutschland verließen und nach
Palästina auswanderten.
Gebildete
Deutsche bewunderten die Römer. Die Römer waren aufrecht gesinnte Menschen, die
Gesetze machten und ihnen folgten, fast wie die Deutschen selbst.
Die
Deutschen liebten die alten Griechen und verachteten sie. Ihr bedeutendster
Dichter, Wolfgang von Goethe, sagte: „Das griechische Volk taugte nie recht
viel“. .
Die Griechen
erfanden die Freiheit, wovon die alten Hebräer nicht einmal träumten. Die
Griechen erfanden die Demokratie. In Athen nahm jeder (außer den Sklaven, den
Frauen, den Barbaren und anderes niedriges Volk)  an öffentlichen  Diskussionen und Entscheidungen teil. Dies
ließ ihnen zum Arbeiten nicht viel Zeit.
In dieser
Weise sah mein Vater sie an, und dies ist die Art und Weise, wie dezente
Deutsche sie jetzt ansehen. Es sind nette Leute, die man während der Ferien
gern um sich hat, aber keine ernsthaften Leute, mit denen man Geschäfte macht.
Zu faul. Zu sehr das Leben liebend. 
Ich habe den
Verdacht, dass diese tief verwurzelte Haltung die Meinung der deutschen Regierung
und Wähler beeinflusst. Sicherlich beeinflussen sie jetzt die Haltung der
griechischen Führer und Wähler. Zum Teufel mit den Deutschen und ihrer Manie
von Gesetz und Ordnung.
ICH BIN
mehrfach in Griechenland gewesen und liebte immer die Leute dort.
Meine Frau
Rachel liebte die Insel Hydra und nahm mich mit dorthin. Um ein Schiff zu
finden, das von Piräus nach dort fährt, war eine Zerreißprobe. Das war
natürlich, bevor es das Internet gab. Jede Schiffsagentur hat einen Zeitplan
für ihre Schiffe, aber es gab keinen allgemeinen Fahrplan. Das würde zu ordentlich
gewesen sein, zu deutsch. (Wenn Piräus Haifa gewesen wäre, dann hätte es an
jedem Schaufenster einen vollständigen Fahrplan gegeben.)
Ich war zu
mehreren internationalen Konferenzen nach Athen eingeladen. Den Vorsitz hatte
bei einer Konferenz die wunderbare Melina Mercouri, eine so intelligente und so
schöne Frau, die zu jener Zeit als Kabinettministerin diente. Die Konferenz befasste
sich mit mediterraner Kultur und war vermischt mit einer Menge gutem Essen und
Volkstänzen. Einmal half ich den Gastgebern von Mikis Theodorakis in Tel Aviv.
Ich habe
also keine Vorurteile gegenüber Griechen. Im Gegenteil. Vor den letzten
griechischen Wahlen empfing ich eine E-Mail-Botschaft von einer Person, die ich
nicht kannte; sie bat mich darum, ein internationales Statement  für die Syriza-Partei zu unterstützen.
Nachdem ich den Text gelesen hatte, unterschrieb ich. Ich sympathisiere jetzt
mit ihrem heldenhaften Kampf.
Es erinnert
mich an die „Matrosen-Revolte“ in Israel in den frühen 1950er-Jahren. Es war
ein Aufstand gegen die Bürokratie der Regierung. Ich unterstützte diesen mit
ganzem Herzen und war sogar ein paar Stunden verhaftet. Als dies alles  mit einer glorreichen Niederlage endete, traf
ich einen berühmten linken General und erwartete, gelobt zu werden. Er
sagte:  „Nur Toren beginnen einen Kampf,
den sie nicht gewinnen können.“ 
Es läuft auf
Folgendes hinaus: Die Griechen schulden eine Menge Geld, eine riesige
Summe  Geld. Es ist jetzt unwesentlich,
wie diese großen Schulden zusammenkamen und wer daran schuld ist. Europa (schon
der Name ist griechisch) hat keine Chancen, die Milliarden zurückzubekommen.
Aber die Griechen werden verdammt werden, wenn sie noch mehr Geld in dieses
bodenlose Fass werfen. Wie kann Griechenland 
ohne mehr Geld überleben?
Ich weiß es
nicht. Ich habe stark den Verdacht, dass dies auch sonst niemand weiß,
einschließlich der Nobelpreisträger.
FÜR
MICH  ist der bedeutendste Teil der
Katastrophe die Zukunft der zwei großen Experimente: die Europäische Union und
die Euro-Währung.
Als die
europäische Idee nach dem brudermörderischen 2. Weltkrieg  auf dem Kontinent an Boden gewann, gab es
eine große Debatte über seinen zukünftigen Umfang. Einige schlugen so etwas wie
die Vereinigten Staaten von Europa vor, 
eine föderale Union wie die der USA. Charles de Gaulle, damals eine sehr
einflussreiche Stimme, lehnte dies streng ab und schlug das „Europa der
Nationen“ vor, eine viel  lockerere Konföderation.
Genau
dieselbe Debatte fand in Amerika vor der Entscheidung statt, die Vereinigten
Staaten zu gründen, und noch einmal während der Zeit des Bürgerkrieges. Am Ende
gewannen die Föderalisten und die Flaggen der Konföderalisten werden sogar noch
heute verbrannt.
In Europa
siegte de Gaulles Idee. Es gab keinen starken Willen, einen vereinigten
europäischen Staat zu gründen. Nationale Regierungen waren nach einigen Jahren
bereit, eine Union unabhängiger Staaten zu schaffen, die widerwillig einen Teil
ihrer souveränen Macht der Super-Regierung in Brüssel übergaben.
(Warum
Brüssel?  Weil Belgien ein kleines Land
ist. Weder war Deutschland bereit, die Hauptstadt der Unionnach Paris zu legen,
noch war Frankreich bereit, sie in Berlin zu quartieren. Es erinnert mich an
den biblischen König David, der seine Hauptstadt nach Jerusalem verlegte, das
keinem Stamm gehörte,  und so vermied er
die Eifersucht zwischen den starken Stämmen Juda und Ephraim.) 
Die
Brüsseler Bürokratie scheint von allen tüchtig gehasst zu werden, aber ihre
Macht  wächst unaufhaltsam. Moderne
Realität bevorzugt immer größer werdende Einheiten. Kleine Staaten haben keine
Zukunft.
Das bringt
uns zum Euro zurück. Die europäische Idee führt zur Bildung eines großen
Blockes, in dem eine gemeinsame Währung sich frei bewegen kann. Einem Laien,
wie mir, scheint es eine wunderbare Idee zu sein. Ich erinnere mich nicht an
einen einzigen bedeutenden Ökonom, der davor gewarnt hätte.
Heute ist es
einfach zu sagen, dass der Euro-Block von Anfang an mangelhaft war. Sogar ich verstehe,
dass man keine gemeinsame Währung haben kann, wenn jeder Mitgliedstaat sein
eigenes nationales Budget nach seiner eigenen Laune und seinen eigenen politischen
Interessen entwickelt.
Das ist der
fundamentale Unterschied zwischen einer Föderation und einer Konföderation. Wie
würden die USA operieren, wenn jedes ihrer 50 Mitglieder ihre eigene Wirtschaft
hätte –  unabhängig von den 49 anderen?
Wie der
Ökonom uns lehrt, kann so etwas wie die Euro-Krise in den US nicht geschehen.
Wenn der Staat Alabama in einer schlechten finanziellen Lage ist, schalten sich
die andern Staaten automatisch ein. Die Zentralbank (oder Föderale Reserve)
wirft das Geld zusammen. Kein Problem.
Die
griechische Krise ergab sich aus der Tatsache, dass sich der Euro nicht auf
solch eine Föderation gründet. Der griechische wirtschaftliche Zusammenbruch wäre
von der europäischen Zentralbank lange bevor es den augenblicklichen Punkt
erreicht hatte, gestoppt worden. Geld wäre von Brüssel nach Athen geflossen,
ohne dass es jemand gemerkt hätte. Tsipras könnte Merkel in ihrer Kanzlei umarmt
haben und glücklich verkünden „Ich bin ein Berliner“.(Ich kann mir wirklich
nicht vorstellen, dass Merkel nach Athen geht und ausruft: „Ich bin eine
Griechin“).
 
Quelle: Marian Kamensky
Die erste
Lektion der Krise ist, dass die Schaffung einer Währungsunion die Bereitschaft
aller Mitglieder-Staaten voraussetzt, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit
aufzugeben. Ein Land, das nicht bereit ist, dies zu tun, kann sich solch einer
Union nicht anschließen. Jedes Land kann seine eigene heiß geliebte
Fußballmannschaft haben und sogar seine 
eigene heilige Flagge, aber sein nationales Budget muss der gemeinsamen
wirtschaftlichen Super-Regierung unterworfen sein.
Heute ist
das ganz klar. Leider war es den Gründern des Euro-Blocks nicht klar.
Insofern hat
eine riesige Nation wie China einen sehr großen Vorteil. Es ist nicht einmal
eine Föderation, aber praktisch ein einheitlicher Staat mit einer einheitlichen
Währung.
Kleinen
Staaten wie Israel fehlt die wirtschaftliche Sicherheit, zu einer großen Union
zu gehören, sie erfreuen sich aber des Vorteils , in der Lage zu sein, frei zu
manövrieren und unsere Währung, den Schekel, entsprechend unsern Interessen
festzulegen. Wenn die Exportkosten zu hoch sind, wertet man ihn ab. So lang wie
die Kredit-Bewertung hoch genug ist, kann man tun, was man will.
Zum Glück
lud uns keiner ein, uns dem Euro-Block anzuschließen. Die Versuchung  wäre zu groß gewesen.
DA DIES so
ist, können wir die griechische Krise mit einiger Gleichgültigkeit verfolgen.
Aber für die
unter uns, die glauben, dass Israel nach einem Friedensabkommen mit den
Palästinensern und der ganzen arabischen Welt, ein Teil einer Art regionaler
Konföderation werden müsste, ist dies eine aufschlussreiche Lektion.
Ich schrieb
darüber, noch bevor der Staat Israel geboren wurde, und  schlug eine „semitische Union“ vor. Es wird
wahrscheinlich nicht geschehen, während ich noch hier bin, aber ich bin mir ziemlich
sicher, dass es vor Ende des Jahrhunderts dazu kommen wird.
Es kann
nicht geschehen, solange die wirtschaftliche Kluft zwischen Israel und den
arabischen Ländern so immens ist wie jetzt – mit einem pro Kopf-Einkommen, das
in Israel 25mal höher ist als in Palästina und in vielen arabischen Ländern.
Aber wenn die arabische Welt einmal seine gegenwärtigen Unruhen überwunden hat,
kann sie auf einen schnellen Fortschritt hoffen, so wie es in der Türkei und in
den moslemischen Ländern in Ostasien geschehen ist.
Irgendwann
in nicht zu ferner Zukunft, mit historischem Maßstab gemessen, wird die Welt
aus großen wirtschaftlichen Einheiten bestehen, die danach streben, eine
funktionierende wirtschaftliche Weltordnung mit einer gemeinsamen Währung zu
schaffen.
Es scheint
töricht zu sein, in der gegenwärtigen Situation darüber nachzudenken, aber es
ist nie zu früh nachzudenken.
Aber man
denke an das, was der Grieche Sokrates sagte: „Die einzige wahre Weisheit ist
die, zu wissen, dass man nichts weiß.“

(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)