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ProMosaik e.V. im Interview mit Luz Jahnen


Liebe Leserinnen und Leser,
anbei ein sehr wichtiges Interview mit Herrn Luz Jahnen zum Thema Frieden, Gewaltfreiheit, Gewaltbewältigung, Reue und Rache.
Wie können wir heute für den Frieden arbeiten? Wie können wir die Lasten und das Leid der Geschichte hinter uns lassen, um eine Zukunft des unbeschwerten Friedens aufzubauen?
Da ist vor allem angesichts der katastrophalen Lage im gesamten Nahen Osten keine Antwort mehr darauf habe als meine eigene utopische Vision, habe ich mich an Herrn Jahnen gewendet, der Gewaltfreiheit lebt und unterrichtet.
Luz Jahnen hat eine Studie
zum Thema Rache als ein Element der Grundfesten unserer westlichen
Kultur und über Versöhnung als eine Form, diese Rache zu überwinden
,
durchgeführt. Diese Analyse und seine Erfahrungen hat er in einem
Workshop zusammengefasst, den er nun in verschiedenen Ländern
organisiert. 
Freue mich auf Ihre Kommentare an info@promosaik.com
dankend
Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.
Eine Anmerkungen zu den folgenden beiden Photos:

1. Foto des Hammurapi-Kodex / Original im Pariser Louvre
2. Foto
einer relativ unbekannten Skulptur von Pablo Hannemann in Berlin



 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Ein sehr interessanter Ansatzpunkt, den ich
für Nahost so wichtig finde, ist weder zu vergeben noch zu vergessen. Könnten
Sie das mal unseren Leserinnen und Lesern erklären?
Herr Luz Jahnen: Diese Frage würde ich gerne erst einmal
unabhängig von den vielfältigen Konflikten in Nahost beantworten. Insgesamt
gesehen fehlen uns Ansätze zur Überwindung von Konflikten. Der menschlichen
Kultur, insbesondere der westlichen, fehlt es an einer Kultur zur Überwindung
von Konflikten. Ich würde sogar noch weiter gehen und bekräftigen: uns – als
Menschheit und als individuellen Menschen – fehlt es an tieferem Verstehen
unserer Konflikte, und damit auch an tieferem Verstehen unserer Gewalt. Erst
ein grundlegendes Verständnis kann den Weg zur Überwindung der Konflikte und vor
allem zu einer Überwindung der himmelschreienden Gewalt bahnen.
Eine recht mechanische Form mit
Konflikten umzugehen, also mit etwas, was mir Leid und Schmerz zugefügt hat,
ist das Vergessen, das Nicht-mehr-hinsehen-wollen, bis hin zum Leugnen und Abstreiten.
So meinen wir den Schmerz vermeiden zu können, den unser Bewusstsein erfahren
hat. Nun, ich brauche Ihnen nur als Beispiel vor Augen zu führen, wie viele
Soldaten und Kämpfer aus den Kriegen zurückkehren: in der Hoffnung auf einen
„normalen“ Alltag in der Familie, im Beruf etc. schweigen sie, versuchen das
Grauenvolle, die Brutalität, die eigene Angst zu vergessen – mit all der
gefühlsmäßigen Verkümmerung, der Deformation ihres Verhaltens, die dann genau
die Bereiche von Familie und Alltagsleben beschädigt, in welchen sie ihr
Lebensglück suchen.
Wieso diese Strategie des Vergessens
nicht funktioniert, liegt auf der Hand: das Leid, der Schmerz, die wir erfahren
haben, oder die wir anderen zugefügt haben, ist nicht mehr am Ort des
Geschehens, beim „Feind“ oder „irgendwo“ in der Vergangenheit, sondern in
unserem Gedächtnis! Und zwar: Jetzt! Und solange sie in unserem Gedächtnis in
ihrer monströsen und schmerzenden Größe verbleiben, finden wir – allen
Versuchen des Vergessen-Wollens zum Trotz – keinen inneren Frieden, keinen
Frieden mit dem „Feind“. Unser Verhalten und all die, mit denen wir Beziehungen
haben, werden beeinträchtigt und beschädigt. 
Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen und den Umgang mit seinen
Erinnerungen, sondern genauso für das Verschweigen, das Vergessen-Wollen der
Gewalt und des Leides, welches ein Volk, eine Nation oder welche Gruppe auch
immer ihrem Gegenüber antut. Ein friedliches Zusammenleben, welches den Namen
„versöhnt“ auch verdient, lässt sich nicht auf dem Vergessen, dem Schweigen
aufbauen. Das wird Ihnen jeder Psychotraumatologe und jeder Genozidforscher
bezeugen und die mühsam unterdrückten Konflikte in fast allen Ländern dieses
Planeten und unsere ganz eigenen Erfahrungen in Familie und Partnerschaften
sprechen hier eine ganz deutliche Sprache, die leider noch nicht verstanden
wird.
Ein ähnlich untauglicher Ansatz des
Umgangs mit Konflikten ist, meiner Meinung nach, „die Vergebung“. Aus alten
kulturellen und auch religiösen Traditionen herstammend, ist das Vergeben einer
Schuld, eines Vergehens eine Art großzügigen, scheinbar positiven Verhaltens.
Schaut man aber ein bisschen genauer hin, ist es in etwa die Generosität des
Reichen, der den Armen mit einem Almosen beschenkt. Es geschieht aus einer
Überlegenheit heraus, aus einer scheinbaren moralischen Überlegenheit, einer
„höheren“ Position, die den oder die Gegenüber degradiert, letztendlich
beschämt. Auch so lässt sich kein Frieden, keine Versöhnung erreichen, kein
gleichberechtigtes Zusammenleben aufbauen.
Frieden und Versöhnung sind sicherlich
nicht die Bilder von grimassenhaft verzerrt lächelnden Politikern, die sich vor
einem Haufen Fotografen die Hände schütteln, während die besseren Waffen für
den nächsten Krieg schon bestellt sind mit den Millionen oder Milliarden, die
ihnen andere Länder versprochen haben, um diesen Frieden zu erkaufen. Während
die Strategen in den Hinterzimmern beider Parteien bereits die Pläne
ausgearbeitet haben, wie man den Anderen wieder übers Ohr haut, benachteiligt,
und die Verträge umgehen kann.
Aber auch im ganz Persönlichen fängt die
Versöhnung sicher nicht mit einer Umarmung des Feindes an.
Frieden und Versöhnung fangen bei dem
Menschen an, der beginnt, die Konflikte um ihn herum und die Konflikte in sich,
zu verstehen. Der Mensch, welcher beginnt, die Ursachen, Faktoren für all das
geschehene Leid, für all die Gewalt zu verstehen. Der Mensch, welcher
vermeidet, rasch irgendeine Position aus Wut und Rache einzunehmen, sondern der
verstehen will, wie es so weit kommen konnte. Der impulsiven Macht der Rache zu
widerstehen, heißt einem primitiven aber immer noch mächtigen Relikt der
Steinzeit in uns zu widerstehen. Ich will damit sagen, Frieden und Versöhnung
sind zu aller erst einmal ein INNERER Prozess der Reflexion, des Verstehens,
des Integrierens. Von da aus, ist es kein großer Schritt mehr, bis hin zum
Verstehen, dass die nicht enden wollende Mechanik der rachsüchtige Gewalt nie
und niemals zu einem Frieden führen wird. Dies ist der Punkt, an dem die
Überwindung der Gewalt, in Nahost oder sonstwo beginnt. Nirgendwo sonst. In
mir.
Mit meiner Antwort nach der Konzeption
von „…weder zu vergeben noch zu
vergessen…“
beziehe ich mich auf Aussagen des inzwischen verstorbenen
lateinamerikanischen Denkers und Mystikers Mario Rodriguez Cobos (Silo) in
einer denkwürdigen Rede vom Jahr 2007, (https://www.youtube.com/watch?v=JdkaX4XQyLE),
die ich grundlegend und sehr inspirierend für dieses Thema finde.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Worauf basiert der kulturell so
grundlegende Begriff der Rache?
Herr Luz Jahnen: Die Rache ist ein zentrales Element des
Phänomens menschlicher Gewalt. Und es lohnt, meiner Ansicht nach, jede Mühe
dieses Phänomen besser zu verstehen, wenn wir ernsthaft unsere Konflikte, die
Gewalt überwinden wollen. Ich spreche von dem Verhalten, womit wir Menschen in
der Regel subtil oder offen antworten, wenn wir verletzt werden. „Verletzt“
nicht nur im körperlichen Sinne, sondern, „verletzt“ in irgendetwas, womit wir
uns identifizieren, was wir als Zu-Mir-Gehörend, empfinden: das ist
selbstverständlich mein Körper, aber auch „meine“ Kinder, „meine“ Familie“,
„mein“ Haus“, „mein“ Stamm oder Volk oder Staat, „meine“ Überzeugungen, „meine“
Religion, „mein“ Auto oder sogar „mein“ Fußballteam,…
Und wenn wir – neugierig geworden –
entwicklungsgeschichtlich zurück gehen, um zu erkunden, woher dieses Verhalten
kommt, stossen wir in grauer Vorzeit auf ein menschliches Wesen, welches in
dauerndem Überlebenskampf, reflexartig und blitzschnell auf jede Verletzung
seines Körpers, seiner Horde oder seines Stamms antworten muss, um den eigenen
Körper, die Nahrung und den eigenen kargen lebensnotwendigen Besitz zu
verteidigen. Weiter noch: ausgestattet mit seinem erstaunlichen Gedächtnis,
sehen sich diese menschlichen Wesen in dem Zugzwang, Angriffe und Verletzungen
auch zeitlich versetzt und mit einem Plan ausgestattet, zu ahnden, zu
vergelten, zu rächen um dem Konkurrenten im Überlebenskampf, dem „Feind“,
deutlich zu machen, dass man stark oder vielleicht sogar stärker als er ist.
Nur so stellt man die Furcht des Anderen vor der eigenen Stärke wieder her und
kann zukünftige Angriffe und Überfälle vermeiden. Hier liegen die Anfänge der
unseligen Kultur von „Ehre“, von Stolz und „Respekt“ – Quelle unzähliger
Konflikte und Kriege bis heute.
Kurz gesagt: bei der Rache haben wir es
also in allererster Linie mit einem primitiven Überlebensmechanismus unseres
Bewusstseins zu tun. Und Teil dieses Mechanismus ist, dem Gegenüber, dem
„Feind“, jede Gleichwertigkeit, sein Mensch-Sein abzusprechen. Dies geschieht
reflexartig: der böse Angreifer, Feind wird zum Objekt meiner Wut, zu einem
Ding. Er ist nicht wie Ich; er ist „kein Mensch“. Diese Reduzierung auf eine
Sache, auf ein Objekt erleichtert mir den Weg der Bestrafung, des Tötens, der
Vernichtung und verhindert eine andere große menschliche Fähigkeit: Mitgefühl
für den Anderen zu empfinden. Die Rächenden reagieren deshalb selbst im engsten
Umfeld mit großer Wut auf jeden, der sie daran erinnert, dass es sich bei dem
Anderen, bei dem „Feind“ um ein Menschen, ein Wesen der gleichen Spezies
handelt.
Heute jedoch, in diesem geschichtlichen
Moment, in dem die Menschheit definitiv eng zusammenlebt, zusammengewachsen
ist, unauflöslich miteinander verwoben ist, ist dieser Mechanismus nicht nur
vollkommen untauglich geworden, sondern zur dauerhaften und größten Gefahr
unserer Weiterentwicklung geworden. Der großartige technologische Fortschritt,
den die Menschheit erreicht hat und zur 
Revolutionierung von Kommunikation, Produktion, Transport, Medizin
geführt hat – aber auch zur Entwicklung der raffiniertesten und furchtbarsten
Waffen – steht in krassem Widerspruch zur fehlenden menschlichen
Weiterentwicklung. Für unser Zusammenleben sehe ich hier die größte und
dringendste Herausforderung unserer Zeit: die Rache zu überwinden.
Aber auf dem Weg diese Herausforderung
zu meistern, sehen wir uns mit einer weiteren sehr großen Hürde konfrontiert.
Und hier, glaube ich, berühren wir auch einen zentralen Punkt der Konflikte in
Nahost: die westliche Kultur, als weltweit dominierende und prägende Kultur
dieses geschichtlichen Momentes, hat wenig bis Nichts zu bieten, wenn es um die
Fragen von Frieden und Versöhnung, wenn es um die Überwindung von Konflikten
geht. Die Rache in all ihren offenen, subtilen und subtilsten Formen ist tief
in den Fundamenten dieser Kultur eingegraben. Und alle Beteiligten in Nahost
stehen auf dem gleichen kulturellen Fundament. So sehr es ihnen auch schwer
fallen mag, anzuerkennen, dass sie Geschwister sind. Zu Zeiten Hammurapis, also
vor etwa 4.000 Jahren, als der Mensch halb sesshaft, halb nomadisierend,
organisiert in Stämmen oder kleinen Königreichen lebte, kommt es im Gebiet von
Euphrat und Tigris zu einem ersten Großreich; zu einem Zusammenleben
verschiedenster Ethnien, Stämme, Sprachen, Religionen und Sitten. Wir sprechen
von einer Zeit und einem Gebilde, in der wir die Anfänge der westlichen
Wissenschaft und dem massivem technologischen Fortschritt beobachten können. Um
dieses Gebilde – ich würde es grob gesagt, den ersten modernen Staat nennen –
zu befrieden, regierbar zu machen, wird etwas erfunden, was wir heute als
schriftliche Gesetzgebung kennen und als selbstverständlich betrachten. Die
vielen Formen bis dahin existierender persönlicher oder Stammes-Rache, als
Antwort auf Konflikte, werden ersetzt durch einem allgemeingültigen
geschriebenen Kodex von Verhaltensnormen, Strafen. Dieser Kodex, der
Hammurapi-Kodex, eine schwarze Diorit-Stele, deren Text heute in vielen
Übersetzungen nachlesbar ist. Dies war seinerzeit sicher ein Fortschritt, weil
es die ausufernden Formen der Blutrache durch den Versuch ersetzte, klare
Maßstäbe für die Strafen zu benennen: Schlägst du jemandem ein Ohr ab, dann
wird auch dir ein Ohr abgeschlagen… Gleichzeitig – und dies wird in der
geschichtlichen Betrachtung leicht übersehen – wurden hier die alten und
ururalten Formen der Konfliktlösung (die Rache), leicht angepasst, in eine neue
institutionalisierte Form der Rache gegossen. Der Staat, als rächende
Institution, natürlich mit erhabenen Worten von Rechtsprechung und
Gerechtigkeit, mit seinem „rächenden“ Apparat von Polizei, Gerichten und
Gefängnissen nach Innen, und seinem „rächenden“ Apparat von Militär,
Geheimdiensten und Bewaffnung nach Aussen. Wir kennen das heute als selbstverständliche
Form uns zu organisieren und scheinbarer Konfliktlösungen. All dies könnte man
im Hinblick auf unsere Zukunft lange diskutieren. Fest steht aber, daß bereits
in diesen Anfängen der westlichen Kultur, eine Kultur der Konfliktlösung
geprägt wird, die das Fundamentalste vergisst: wie der Mensch – im
Zusammenleben immer von Konflikten betroffen – den inneren Frieden, das innere
Gleichgewicht, die innere Heilung der erlittenen „Wunden“ wiederfindet. Diese
Fehlkonstruktion, um es einmal so zu nennen, wird heute zum doppelten und
vielfachen Hindernis auf dem Weg den so dringenden notwendigen Frieden und oder
gar Versöhnung zu finden. Uns fehlt fundamental eine Kultur der Versöhnung, des
inneren Friedens, der inneren Heilung. Und ohne eine solche Kultur stehen wir,
angesichts der zunehmenden Beschleunigung der Ereignisse, mit leeren Händen der
dauernden Gefahr weiterer schlimmer und schlimmster explosiver Konfrontationen
überall gegenüber.
Noch etwas: wenn wir wirklich verstehen
wollen, wo wir herkommen, wäre es auch Zeit zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem
gleichen geographischen Raum und auf dem gleichen kulturellen Substrat diese
drei Ausdrucksformen menschlicher Spiritualität geboren werden, die wir als
Judentum, Christentum und Islam kennen. Diese drei kulturell-historischen
Geschwister!, haben sich in der Geschichte bis hin zur aktuellen Gegenwart
nicht durch Zufall soviel unbarmherzige Konfrontation geliefert: die
Ausschließlichkeit nur demjenigen gleichberechtigte Anerkennung als Mensch zu
geben, der vom gleichen „Stamm“, der gleichen Religion ist. Die unbarmherzige
Bestrafung durch angeblich göttliche Gerechtigkeit, die Rache in all ihren
Formen, über Generationen tausendfach kultiviert und in den Volkstraditionen
bis in den hintersten Winkel des familiären Zusammenlebens getragen, drückt
sich in einer Kultur der Unversöhnlichkeit und der „Opfer“bereitschaft aus.
Solange wir diese Kultivierung eines
steinzeitlichen Überlebenskampf, die Rache, 
nicht überwinden, werden wir den 
Fortschritt unseres Zusammenlebens nicht erreichen, den so viele schon
so lange ersehnen.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Welche Hauptstrategien zur
Gewaltbekämpfung finden Sie wichtig für Nahost?

Herr Luz Jahnen: Wie Sie sehr wohl wissen, gehöre ich
nicht zu den ernannten oder selbsternannten Spezialisten des Nahen Osten und
seiner himmelschreienden Konflikte. In den mehr als 50 Jahren, die ich nun
lebe, sind die fast täglichen Nachrichten über die nicht enden wollenden
Konflikte, Ausgrenzungen, Bombenanschläge und Terror aller Art, Krieg, Folter,
scheinbare Friedensschlüsse, Armut, Hoffnungslosigkeit, Wut und Hass im Nahen
Osten traurige Begleitmusik meines Lebens und viel traurigere und bedrückende
Lebenswirklichkeit für hunderttausende, Millionen Menschen. Die Funktionäre der
beteiligten politischen Kräfte stammen – so scheint mir – fast alle aus
militärischen oder anderen gewalttätigen Zusammenhängen. Wie sollten sich aus
solchen Gremien Strategien für wirklichen Frieden ergeben? Wir sprechen von
Konflikten, die die Beteiligten bis tief in die Bevölkerung hinein, geradezu
dazu treiben, Position zu ergreifen, uns in Freunde und Feinde zu spalten,
irgendeine Seite zu wählen, die dem eigenen Leben Vorteil und vielleicht
Sicherheit verspricht. Und wir haben es mit Fundamentalismen aller Art zu tun,
jenseits aller Vernunft und jenseits aller Barmherzigkeit, auch mit eiskalten
Geschäftemachern aller Art und vieler Länder zu tun. Wenn ich auf diese Gremien
schaue, sehe ich keinen Anlass zur Hoffnung. Ganz im Gegenteil.  Und ich bin gespannt, wie lange die Menschen
diese hoffnungs- und zukunftslosen Gruppierungen noch wählen.

Und ich weiß nicht, ob es eher meine
Hoffnung als eine Strategie ist: die Menschen. Ich meine die Mütter und Väter,
die Jugendlichen, welche jenseits der politischen und religiösen Überzeugungen
und geografischen Grenzen, in die sie hineingeboren wurden, die innere Freiheit
der ganz persönlichen Reflexion – vielleicht in einem Moment persönlichen
Scheiterns mit den alten Konzepten – kennenlernen. Damit verbinde ich die
Hoffnung auf die notwendige Einsicht, dass die Zukunft nur, einzig und alleine,
der Gewaltlosigkeit gehören kann. Und selbst wenn tausende Stimmen der
organisierten Betonköpfe, Gewaltapparate und Parteigänger rufen: wie naiv! Es
ist die Hoffnung auf Mütter und Väter, die die nächste Generation nicht die
Pflicht zur Rache lehren, sondern ihnen ein Gefühl für die Zusammengehörigkeit
unserer Spezies vermitteln und vorleben. Es ist die Hoffnung auf zukünftige
Generationen, für die Gleichberechtigung eine warme und frohe Empfindung von
offener Zukunft für alle Menschen ist. Und, so viel ich gehört, gelesen und
gesehen haben, gibt es solche persönlichen Initiativen, Gruppierungen, die sich
über den Stamm, die Nation, den Glauben hinweg miteinander verbinden und sich
gegenseitig helfen. Diesen einfachen Personen und Grüppchen gilt meine
Hoffnung. Von ihnen aus wird die notwendige gänzlich neue Kultur entstehen
können, welche die Gewalt, die schreiende Ungerechtigkeit und die tief
sitzenden Ängste überwinden.
Darüber hinaus sollten wir Gespräche, wie
dieses hier, weiter führen; mit LehrerInnen, Eltern, Jugendlichen. Wir sollten
und könnten an einem tieferen Verständnis unserer Gewalt und aller damit
verbundenen Traditionen arbeiten. Hier sehe ich Möglichkeit und Hoffnung; nicht
aber in Diskursen in Konferenzen mit den Gremien, die in die Kamera lächeln,
unter dem Tisch aber die Pistole entsichert haben. 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie entsteht Versöhnung und warum?
Wie kann man daran arbeiten?
Herr Luz Jahnen: Versöhnung entsteht aus dem tiefen
Wunsch, dem eigenen tief verletzten und schmerzenden Bewusstsein den verlorenen
Frieden und das verlorene Gleichgewicht wieder zu bringen. Es entstammt dem
tiefen Wunsch nach einer wahren Neuordnung und Neuausrichtung meines Lebens und
auch meines Zusammen-Lebens mit den Anderen. Und nicht zuletzt stammt es aus
einer bewussten Ablehnung der Gewalt und aller Impulse, die mich zur Rache
auffordern.
Versöhnung ist zuallererst einmal ein
persönlicher Umgang mit mir selbst: das Leid, die Gewalt, den Schmerz, den ich
selbst erlitten habe zu verstehen; zu verstehen, was bei mir und dem oder den
Anderen, die Menschen wie ich sind, dazu geführt hat. Nicht vergeben, nicht
vergessen. Sondern: verstehen. Das ist ein reflexiver, fast meditativer Akt,
welcher Absicht, Intention erfordert. Alles andere wird sich daraus
ergeben. 
Über dieses Verständnis einer inneren
Kultur des Gleichgewichtes und des inneren Friedens lohnt sich bestimmt mit all
denen zu sprechen und auszutauschen, die der nicht enden wollenden Gewalt müde
sind. Es würde sich lohnen hierüber mit den Kindern, den Jugendlichen und all
denen zu sprechen, die mit den neuen Generationen zu tun haben. Sehr vielfältig
könnten dieser Art Initiativen und Bemühungen sein.
Meiner Meinung nach, wäre dies der
einzige Weg, den einzementierten Ungerechtigkeiten, den Gewaltpredigern aller
Coleur den Nährboden und die Unterstützung in wachsendem Masse zu entziehen.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie denken Sie, kann man für den
Frieden in Nahost in der Gesellschaft arbeiten?
Herr Luz Jahnen: Ich denke, man sollte diesen
grundsätzlichen Diskurs hin zu einer empfundenen und begründeten Ablehnung der
Gewalt vertiefen. Es gilt das Phänomen der Gewalt in all seinen Facetten,
seiner Wirkungsweise und geschichtlichen Herkunft zu verstehen: es gibt
physische, ökonomische, rassistische, psychologische, religiöse Formen der
Gewalt.  Jedes Beispiel, jedes Zeugnis
von Einzelnen oder Gruppen, denen es für sich gelingt Gewalt und Hass zu
überwinden, gilt es zu propagieren. Es gälte – für die, die tatsächlich
Lösungen suchen – mit einem kritischen Blick die alten Rachetraditionen, die
Gewaltbegründungen in der eigenen Kultur, der eigenen Gemeinde, der eigenen
Nachbarschaft, der eigenen Familie, in mir selbst, sogar in den so unantastbar
heiligen Schriften kritisch zu hinterfragen. Vor uns liegt die Aufgabe ein noch
nicht geschriebenes Kapitel der Menschheit zu gestalten.
Und immer wieder brauchen wir die Suche
nach dem ganz persönlichen Dialog, dem Meinungsaustausch, der Kooperation, der
Gemeinsamkeit über scheinbare ethnische, religiöse und nationale Grenzen hinaus
– mit denen, die guten Willens sind. Den Aufbau einer neuen Kultur zu fördern:
die Vielfalt zu respektieren (die Gewalt nicht!) mit dem gemeinsamen Traum
einer universellen menschlichen Kultur. Jedes Gespräch, jede Zusammenkunft,
jeder Artikel, jedes Buch, jede Vorlesung oder Unterrichtsstunde in diese
Richtung ist wichtig und zu unterstützen. Wir dürfen nicht müde werden, auch
wenn wir Rückschläge erleiden, die Stimme gegen die Gewalt zu erheben, sie zu
benennen, zu demaskieren und die Rechte Aller auf lebenswerte Existenz
einzufordern.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Was haben Sie mit Ihrer so wichtigen
Arbeit erreicht und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Herr Luz Jahnen: Erreicht haben wir alle noch nicht
viel, aber immerhin die Klarheit für den Weg, der  vor uns liegt. Eine so klare Richtung zu
haben, bedeutet schon viel in dieser verwirrten und gewalttätig-explosiven Welt
voller Umwälzungen. Und für die Zukunft wünsche ich mir genau das, was ich in
der vorherigen Antwort geäußert habe. Und deshalb danke ich Ihnen auch von
Herzen für die Gelegenheit dieses Gesprächs!