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Perspektiven zum muslimischen Anderen in der jüdischen Tradition von Prof. Yakov Rabkin – Einführung


Liebe Leserinnen und Leser,
anbei die Einführung des Artikels von Prof. Yakov M Rabkin zum Thema der historischen Beziehungen zwischen Judentum und Islam.

Wir werden heute noch den nächsten Teil veröffentlichen.

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare an info@promosaik.com

dankend

Dr. phil. Milena Rampoldi – ProMosaik e.V.

Veröffentlicht im Journal of the
Interdisciplinary Study of Monotheistic Religions
, 5, 2009, S. 26-45.
Perspektiven zum muslimischen
Anderen in der jüdischen Tradition
Yakov M Rabkin, Professor für Geschichte an der
Universität in Montreal und
Hinda Rabkin, 
B.C.L., LL.B an der McGill University
Deutsche Übersetzung von Dr. phil. Milena Rampoldi
von ProMosaik e.V.
Die Haltungen gegenüber dem Anderen basieren im Judentum auf Mythen,
Berichten, Legenden und gesetzlichen Vorschriften. Der Bericht der Differenzierung
nimmt im Judentum eine zentrale Stellung ein, und die Entwicklung der Gesetze
und der Identität ist davon durchdrungen. Dieses Narrativ wirkt ausdrücklich
durch die biblischen und rabbinischen Vorschriften sowie implizit über
Geschichten. Die Juden unterscheiden sich nach Stamm, Zugehörigkeit zu einem
Hohen Priester, Geschlecht sowie nach Niveau und Form der Befolgung der Praxis
des Judentums. Der Ursprung des Nicht-Jüdischen kommt in den jüdischen Quellen
ziemlich selten vor, im Besonderen im Zusammenhang mit einer ausdrücklichen
biblischen Vorschrift, wie z.B. auf die Vorschrift bezüglich der Amalekiter
oder Moabiter. 

Vorab sollten wir unser Augenmerk auf die Art und Weise richten, auf die
die jüdische Tradition die Gemeinschaft abgrenzt und den Anderen, den Juden und
den Nicht-Juden definiert. Hier im Folgenden werden wir somit die historischen
Bedingungen der jüdisch-muslimischen Interaktion untersuchen und die
Modalitäten analysieren, nach denen die jüdische Tradition (im Besonderen das
jüdische Gesetz und die jüdischen Haltungen) ihren Bezug zum Muslim als den Anderen
herstellt. Am Ende der vorliegenden Abhandlung folgen einige Anmerkungen über
die Auswirkung des Nahostkonflikts auf die jüdischen Wahrnehmungen des Muslims
als Anderen. 
 Einführung

Den jüdischen Haltungen gegenüber dem Islam gemäß dem jüdischen Gesetz (Halacha)
wurde, im Gegensatz zur großen Anzahl an Literatur über die jüdischen
Anschauungen hinsichtlich des Christentums, weniger Bedeutung beigemessen.
[i] Dies kann auf zahlreiche Gründe, worunter auch
auf die größere Fokussierung auf das europäische Judentum in akademischen
Kreisen, zurückgeführt werden. Die jahrzehntelange Erfahrung des israelischen
Staates ist in dieser Beziehung kaum von Belang. Dies hat nicht nur mit der jungen
Geschichte Israels zu tun. Da es größtenteils anti-religiöse Juden waren, die
die zionistische Initiative ins Leben riefen und so auch den Staat Israel
gründeten und es auch diese anti-religiösen Juden sind, die den Zionismus seit mehr als einem Jahrhundert beherrschen, sollte
man daraus schließen, dass deren Verhalten nicht die jüdische Einstellung
gegenüber den Muslimen und den Gläubigen anderer Religionen wiederspiegelt.
Das Konzept der Identität und des Anders-Seins ging auch ziemlich spät, erst
in den 1950er Jahren, in den akademischen Diskurs, im Besonderen in die Disziplinen
der Anthropologie und Geschichte, ein. Das Anders-Sein kam in Zusammenhang mit
der Identität auf. Die Identität wird in Gegenüberstellung zum Anderen
aufgebaut und strukturiert gleichzeitig auch den Anderen.
[ii] Der französische Philosoph jüdischen Ursprungs Emmanuel
Levinas betont die positive Rolle des Anders-Seins im Aufbau der menschlichen
Gesellschaft. Im Gegensatz zu Jacques Derrida und anderen jüdischen Denkern,
glaubt Levinas jedoch, dass die Identität nicht auf unsere Konfrontation mit
oder auf die Differenzierung gegenüber dem Anderen zurückzuführen ist, sondern
auf unsere Antwort auf den Ruf des Anderen: „Mein Ich-Sein bedeutet, dass ich
schon für den Anderen bin: Ich bin für den Anderen, bevor ich für Mich bin“. Levinas
ist hierbei offensichtlich von den moralischen Lehren der Mischna
[iii] beeinflusst und klammert sozio-kulturelle
Aspekte  des Anders-Seins (alterité)
aus, um das Anders-Sein als einen intrinsischen Bestandteil des menschlichen
Bewusstseins und als Grundlage des ethischen Verhaltens zu erfassen.
[iv]

Die Studien über die jüdische Kultur und Geschichte betonen die
Modalitäten, nach denen der Andere den Juden marginalisierte, ausschloss und
unterdrückte. Erst vor kurzem haben Gelehrte auch damit begonnen, sich mit den
Modalitäten zu befassen, nach denen die Juden im Prozess des Aufbaus ihrer
kulturellen Identität den Anderen sehen und definieren.
[v] Das Leid als Quelle jüdischer Identität, und vor
allem das von den Nicht-Juden als dem unterdrückenden Anderen zugefügten Leid,
ist tief verankert.
[vi] Aber hierzu gibt es keinen Consensus. Ein
amerikanisch-jüdischer Pädagoge
hob
Folgendes hervor: „Persönlich habe ich diese Anschauung des ewig-hassenden
Nicht-Juden niemals in der Wirklichkeit bestätigt bekommen. Es scheint einfach
nur ein Mythos zu sein, wenn auch einer der schlimmsten Art“.
[vii] Somit gestalteten sich die
jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in der Geschichte und in den verschiedenen
Ländern sehr unterschiedlich und weisen daher nuancierte und manchmal auch
widersprüchliche Aspekte auf.   
Die zahlreichen Bezüge auf den Anderen als Nichtjuden in der jüdischen
Gesetzgebung verfolgen das Ziel der Regelung der jüdischen Beziehungen mit den
Nicht-Juden.
[viii] Diese Vorschriften sind in der Bibel verankert
und wurden nach der Zerstörung des zweiten Tempels im 1. Jahrhundert n. Chr.,
als die Juden die letzten Spuren der politischen Unabhängigkeit verloren und in
einen weiten Kontakt mit den nichtjüdischen Nachbarvölkern gelangten,
weiterentwickelt. Die Gesetze wurden in der Mischna weiter ausgebaut und im
Talmud ausgearbeitet. Diese Vorschriften bilden bis heute die Grundlage des Halacha hinsichtlich der Beziehungen
zwischen Juden und Nicht-Juden.
Das vorrangige Anliegen, das den Gesetzen zwecks Regelung der Beziehungen
zu den Nicht-Juden zugrunde liegt, besteht darin, sich zu versichern, dass die
Juden nicht gegen das göttliche Gesetz verstoßen. Das rabbinische Gesetz schuf
daher ein Bezugssystem, das die Juden zwecks Regelung ihrer Beziehungen zu den
Nicht-Juden nutzen sollen. Indem sie Vorsichtskriterien nannten und gesetzliche
Unterscheidungen ausarbeiteten, erarbeiteten die Rabbiner einen Bereich, in dem
ausgedehnte Handelsgeschäfte und auch der soziale Austausch stattfinden konnten.
[ix] Beispielsweise besprechen die Rabbiner, welche
Bilder als heidnisch gelten und daher für die Juden verboten sind und welche
hingegen als rein ästhetisch gelten und somit zulässig sind. Als Rabban
Gamliel, ein berühmter jüdischer Gelehrter, der im zweiten Jahrhundert in der
griechisch-römischen Stadt von Acre lebte, gefragt wurde, wie er sich denn neben
einer Statue von Aphrodite waschen konnte, wenn die Bibel es doch verbiete,
einen Vorteil aus der Idolatrie zu ziehen, so antwortete er, dass die Statue
einen rein dekorativen und keinen kultischen Zweck erfüllte, als sie in das
Badehaus gestellt wurde.
[x]


[i] Beispielsweise gibt es kein Gegenstück im Bereich
der Analyse der jüdisch-muslimischen Beziehungen zur bahnbrechenden Abhandlung
über die jüdisch-christlichen Beziehungen von Jacob Katz Exclusiveness and
Tolerance: Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times
, New York: Shocken Books,
1962.
[ii] Laurence J. Silberstein “Others Within and Others
Without: Rethinking Jewish Identity and Culture” in Laurence Silberstein &
Robert Cohn Hrsg., The Other in Jewish Thought and History: Constructions of
Jewish Culture and Identity
,
New York: NYU Press, 1994, S. 12.
[iii] Vgl. die bekannte Maxime: „Was bin ich denn, wenn
ich für Mich bin?“ (Mischna Pirke Avot, 1:14)
[iv] Silberstein, supra Anmerkung
2, S. 25. Mehr über das Denken von Emmanuel Levinas über das Anders-Sein und
das ethische Verhalten findet sich in seinem Werk Totality and Infinity: An
Essay on Exteriority
, Pittsburgh: Duquesne University Press, 1969.
[v] Silberstein, ibid.,
S. 12.
[vi]  Esther Benbassa, Souffrance
comme identité,
Paris: Fayard, 2007.
[vii] Mayer Schiller, “The New Judaism?” Issues of the
American Council for Judaism
, Summer 1998, S. 5 & 12.
[viii] Christine Hayes “The ‘Other’ in Rabbinic Literature” in
Charlotte Fonrobert & Martin Jaffee Hrsg., The Cambridge Companion to
the Talmud and Rabbinic Literature
, Cambridge: Cambridge University Press,
2007, S. 244.
[ix] Ibid., S. 248.
[x] Babylonischer Talmud (hier im Folgenden BT), Avoda Zara
3:4; vgl. die Behandlung der Episode durch einen Philosophen in: Yadin, Azzan. “Rabban Gamliel, Aphrodite’s Bath, and
the Question of Pagan Monotheism” Jewish Quarterly Review – 96 (2) Frühjahr
2006, S. 149-179.