General

Rezension: KANAAN – gemeinsames Land der Palästinenser und Juden


Liebe Leserinnen und Leser,

anbei eine sehr wertvolle Rezension von Abraham Melzer, die auf “Der Semit” veröffentlicht wurde.
Es geht um das Buch “KANAAN – gemeinsames Land der Palästinenser und Juden” des Autors 
Mazin Qumsiyeh.

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare

dankend

Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.

  

Zum
israelisch-palästinensischen Konflikt sind schon tausende und abertausende von
Bücher, Aufsätze, Essays und Abhandlungen geschrieben worden. Meistens von
Nichtbetroffenen, von deutschen, französischen, italienischen, amerikanischen,
kanadischen etc. Journalisten, Korrespondenten und Historiker. Wenn Betroffene
dazu was geschrieben haben, dann waren es bisher fast ausschließlich Israelis,
die entweder streng und kompromisslos die zionistische Geschichtsschreibung
mitverfälscht haben, oder es waren die neuen, jungen, wilden israelischen 
Historiker wie Ilan Pappe, Avi Shlaim, Michael Bar-Zohar, Benny Morris, Tom
Segev und die Klassiker von Simcha Flapan und Israel Shahak.

Von
arabisch-palästinensischer Seite haben wir bisher wenig gelesen. Jetzt aber ist
im Zambon Verlag ein Buch erschienen, welches alles bisher Erschienene in den
Schatten stellt und 100 Jahre Schweigen bricht und wiedergutmacht. Es ist kein
Buch der „menschlichen Superlative“, sondern ein Buch der leisen Töne, der
Fakten, Beweise und einer Sprache, die man gerne liest, weil man sie auch
leicht versteht, im Gegensatz zu manch jüdischen Historiker von Dan Diner bis
Mosche Zuckermann. Es geht in dem Buch nicht um Leid und nicht um
Alleinvertretungsanspruch auf erlittenes Unrecht, obwohl die Grundthese des
Buches, die wie ein roter Faden den Leser durchs Buch begleitet, die ist, das
dem palästinensischen Volk Unrecht geschehen ist, durch Juden, durch Deutsche,
durch die UNO und dem Völkerbund und durch uns allen, die wir dazu geschwiegen
haben und immer noch schweigen. 
Der Autor, Professor für
Cytogenetik an der Universität von Bir Zeit im besetzten Westjordanland,
schafft es, die zum Teil schrecklichen Vorgänge, die zum Verlust der
palästinensischen Unabhängigkeit, zur Gründung des Staates Israel und zur
Vertreibung der Palästinenser von ihrem Grund und Boden und zum Verlust ihrer
Freiheit geführt haben, ohne Hass und Verbitterung darzustellen, dass sie dafür
umso eindringlicher unter die Haut gehen.
Von den verschiedenen
Kapiteln des Buches, die sich alle wie ein Kriminalroman lesen, voller Spannung
und Erwartung der Lösung, möchte ich mich mit den Kapiteln „Ist Israel eine
Demokratie“ und „Gewalt und Terrorismus“ beschäftigen, weil hier das meiste
Unwissen herrscht und in auf diesen Feldern die israelische Propaganda am
meisten Unheil angerichtet hat, während in den anderen Kapitel die Fakten und
Tatsachen so eindeutig sind, dass es darüber keine Diskussion geben darf, es
sei denn, man will bewusst seinen Kopf in den Sand stecken und die Wahrheit
nicht sehen oder nicht akzeptieren. Wahrheit kann man ignorieren, aber man kann
historische Tatsachen nicht ändern bzw. fälschen.
Im Diskurs um den
israelisch-arabischen Konflikt betont die zionistische Seite immer wieder, dass
Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten ist.“ Nun, das zu behaupten
reicht noch nicht, denn jeder weiß, dass die Nachbarstaaten bis hin zu
Saudi-Arabien, Irak, Iran, Jordanien und Ägypten keine Demokratien sind. Es
sind Diktaturen, Militärdiktaturen oder Königreiche, in denen Demokratie
unbekannt ist.
Aber auch Israel ist nicht
die Demokratie, die wir von Europa her kennen. Yitzchak Shamir, Israels Premier
von 1986 bis 1992, sagte am 14. Juli 1992 der New York Times: „Der jüdische
Staat kann ohne einen speziellen ideologischen Inhalt nicht existieren. Wir
können nicht lange existieren wie irgendein anderer Staat, dessen
Hauptinteresse dem Wohlfinden seiner Bürger gilt.“ Und in den letzten Jahren
liest man in den diversen Foren der hebräischen Presse in Israel, dass immer
mehr Israelis bereit sind, auf den demokratischen Charakter des Staates zu
verzichten, Hauptsache der Staat wird und bleibt jüdisch. Das ist aber schon
längst Realität geworden. Nichtjuden können nicht zur israelischen Nation oder
zum „Am Yisrael“ (Volk Israel) gehören, nicht einmal dann, wenn sie dessen
Staatsbürger sind. Nach israelischem Recht ist jeder Jude, ungeachtet seiner
Kultur, Abstammung oder Staatsangehörigkeit, ein Bürger Israels.
Gemäß dem sogenannten
„Rückkehr-Gesetz“ hat jeder Jude das Recht, als Rückkehrer (Oleh) in dieses
Land zu kommen. Gemäß diesem Gesetz kann jeder Jude, einschließlich der
Konvertiten, nach Israel einwandern, „zurückkommen“, denn so heißt das Gesetz.
Ein Jude darf zurückkommen, selbst wenn seine Vorfahren angeblich vor
zweitausend Jahren das Land verlassen haben. Er ist nach zweitausend Jahren
immer noch ein Rückkehrer. Die Palästinenser dagegen, die 1948 vertrieben
wurden, dürfen nicht zurückkommen, sie sind keine Rückkehrer.

Für jeden Menschen, der
nach gesunden Menschenverstand urteilt, ist das purer Rassismus, und die UNO
tat gut daran, als sie Israel einst als rassistischen Staat verurteilt hat. In
Israel geht das so weit, dass Palästinenser, die 1948 während der Kämpfe ihre
Dörfer aus Angst verlassen haben, weil sie vor dem Krieg geflohen sind, an der
Rückkehr gehindert werden, selbst wenn sie in einem Dorf wenige Kilometer
entfernt Zuflucht gefunden haben. Um sie nicht einzubürgern und um ihr Hab und
Gut beschlagnahmen zu können, besonders die Grundstücke und Ländereien, haben
die Israelis ein „Abwesenheitsgesetzt“ erlassen. Beschlagnahmter Besitz von
abwesenden Palästinenser wurde Juden zugesprochen. Und wenn es einmal vorkam,
dass ein Palästinenser als Entschädigung den Grundbesitz eines „abwesenden“
Arabers bekam, dann wollten diese in der Regel solchen Besitz, der ihren
Brüdern geraubt wurde, nicht annehmen und dann wurde er auch Juden übergeben.
Für die am 29. November 1947 oder danach nicht zuhause anwesenden Palästinenser
wurde eine paradoxe Kategorie erfunden: „Anwesende Abwesende“.
Bis 1966 lebten die im
Staatsgebiet verbliebenen Palästinenser unter Militärverwaltung. Sie durften
ihre Häuser und Dörfer ohne besondere Erlaubnis nicht verlassen und wenn sie
nach der Sperrstunde außerhalb ihrer Wohnungen waren, durften sie erschossen
werden. In Kfar Kassem wurden 1956 mehr als 86 Bauern, die spät abends nach
Hause kamen ohne zu wissen, dass die Sperrstunde vorverlegt wurde, erschossen.
Die Täter wurden nicht bestraft.
Bis vor kurzem gab das
israelische Innenministerium Personalausweise mit der Angabe der „Nationalität“
aus: jüdisch, arabisch, drusisch, assyrisch. Das Ministerium wies die Anträge
einer Gruppe zurück, die sich „israelisch“ nannte und als Nationalität
„Israeli“ eingetragen haben wollte. Das Ministerium ließ stattdessen diese
Spalte in den Ausweisen einfach weg. Laut Gesetz gibt es die „israelische
Nationalität“ überhaupt nicht. Richter Shimon, der Präsident des obersten
Gerichtshofes, erklärte, die Anerkennung einer israelischen Nationalität „würde
das Fundament verleugnen, auf dem der israelische Staat aufgebaut wurde“.
Natürlich, das jüdische Fundament, das Israel mit allen Juden auf der ganzen
Welt verbindet.
Diese Behandlung der
Palästinenser, die nach der ethnischen Säuberung 1947-1949 im Lande geblieben
waren, sagt alles aus. Die Wirklichkeit war weit von jeder Gleichberechtigung,
die ihnen in der Unabhängigkeitserklärung versprochen wurde. Man behandelte sie
als „fünfte Kolonne“, und zirka hundert palästinensische Dörfer mit über 70 000
Einwohnern wurden von der Regierung offiziell nicht anerkannt. Das heißt, sie
werden von der Zerstörung bedroht, von der Entwicklung ausgeschlossen und auf
keiner Karte eingezeichnet. Sie wurden daran gehindert, Dinge wie
Trinkwasserleitungen zu besorgen, Krankenstationen zu bauen, und manchmal wurden
ganze Dörfer von der Umgebung abgeriegelt.
Der Staat Israel wurde als
ein jüdischer Staat gegründet. Die eingesetzte Regierung ist dem Charakter nach
demokratisch, aber im Wesen jüdisch. Und wenn es einen Widerspruch gibt
zwischen dem Wesen und dem Charakter, so ist klar, dass das Wesen Vorrang hat
und Schritte unternommen werden müssen, um Schaden oder Veränderung von diesem
jüdischen Wesen abzuwenden. Die Demokratie darf den jüdischen Staat nicht
zerstören. Viele Rabbiner argumentieren, dass in der Bibel nichts von
Demokratie steht.
Soweit in Kürze Mazin
Qumsiyeh´s Gedanken und Ausführungen. Aber auch zum Thema Terrorismus hat er
interessante Gedanken aufgeschrieben, und ich möchte diese dem Leser auch
näherbringen.
„Diejenigen, die eine
friedliche Revolution nicht zulassen, machen eine gewalttätige Revolution
unvermeidlich“, sagte John F. Kennedy am 12. März 1962. Der israelischen
Propaganda ist es gelungen das Wort „Terrorist“ als Synonym für „Palästinenser“
in den Köpfen vieler Menschen einzupflanzen. Die US-Regierung definierte aber
den Terrorismus wie folgt:
§  Gewalttätige
Handlung oder Handlungen, die Menschenleben, Besitz oder Infrastruktur
gefährden und
§  Darauf
zielen,
§  Eine
zivile Bevölkerung einzuschüchtern oder Zwang auf diese auszuüben.
§  Die
Politik einer Regierung durch Einschüchterung oder Zwang zu beeinflussen.
§  Die
Regierungsführung durch Massenzerstörung, Mord, Entführung oder Geiselnahme zu
schaden.
Terrorismus wäre dann auch
die Belagerung palästinensischer Städte durch die israelische Armee sowie deren
Bombardierung von Infrastruktur und Stadtvierteln.
Den Terrorismus haben die
Juden in den Nahen Osten gebracht und damit die Palästinenser demoralisiert.
1936 legten Irgun-Terroristen eine Bombe im Obst-und Gemüsemarkt von Haifa und
töteten mehr als 30 Zivilisten; Allein im Juli 1938 tötete der Irgun 76
Palästinenser bei Terrorangriffen; am 22. Juli 1946 jagte eine Autobombe des
Irgun einen Flügel des King David Hotel in Jerusalem in die Luft. Dort war die
britische Zivilverwaltung untergebracht. 28 Briten, 41 Araber, 17 Juden und
fünf weitere Personen kamen ums Leben; die Zionisten führten auch als erste die
Wirtschaftssabotage ein. 1939 ließ die Hagana die irakische Ölpipeline bei
Haifa hochgehen; am 12. Dezember 1954 entführten die Israelis eine syrische
Zivilmaschine, und 1973 schossen die Israelis eine libysche Zivilmaschine ab,
die sich in einem Sandsturm über den Sinai verflogen hatte. Alle 106 Passagiere
kamen dabei um. Die Liste der zionistischen Terroranschläge ist lang und sie
stellt die Liste der palästinensischen Taten in den Schatten. Darüber ist
bisher noch nie ausführlich gesprochen worden. Es hieß immer nur „arabischer
Terror“ bzw. „die radikal islamische Hamas“. Wie radikal die diversen
israelischen Regierungen waren, war nie ein Thema. Gezielte Tötungen durch
israelische Soldaten, die extra dafür ausgebildet wurden, war nie ein Thema.
Davon, dass die Israelis 112.000 Olivenbäume in einem Akt der Barbarei
ausgerissen haben, ist auch nie gesprochen worden.
Fast die gesamte Weltpresse,
die deutsche Presse und der Springer-Konzern an erster Stelle, beschreiben den
palästinensischen Widerstand grundsätzlich als Terrorismus. Was ist mit dem
französischen Widerstand gegen die Deutschen? Der Widerstand der
südafrikanischen Schwarzen gegen die Apartheid? Der afghanische Widerstand
gegen die sowjetische oder amerikanische Besatzung? Der Partisanenkrieg der
Russen gegen die Wehrmacht? Und der Widerstand der Algerier gegen die
Franzosen? Viele Völker kämpften um ihre Unabhängigkeit und wurden während des
Kampfes als Terroristen diffamiert. Übrigens auch die Juden, deren Anführer
Begin und Shamir wurden von den Briten als „meist gesuchte Terroristen“
plakatiert. Und was ist mit dem jüdischen Widerstand gegen die Römer in der
Zeit von Jesus? Wenn ein schwaches Volk gegen eine gewaltige Übermacht kämpft,
dann hat es keine andere Wahl als zum Mittel des “Terrorismus” zu greifen. Ist
denn das Abwerfen einer Ein-Tonnen-Bombe auf ein Wohngebiet kein Terrorismus?
Die Palästinenser griffen
im Kampf gegen die kolonialistischen Zionisten ebenso auf den Terrorismus
zurück, wie andere Gruppen, zum Beispiel die IRA in Nordirland, oder der
Widerstand der KANU in Kenja.
Terrorismus als solcher,
schreibt Mazin Qumsiyeh, ist unmoralisch und fällt außerhalb all dessen, was
die Mehrheit der Menschen als akzeptabel hinnehmen würde. Aber, wie zu Anfang
erwähnt, hat bereits Kennedy eingesehen, dass die meisten Menschen viel lieber
eine friedliche Revolution machen würden, wenn man sie nur ließe.
Die Verantwortlichkeit von
Gruppen für die Gewalt ist ein Thema, mit dem sich Qumsiyeh auch beschäftigt.
Er meint, wenn man schon nicht für die Gewalt selbst verantwortlich ist, dann
ist man doch dafür verantwortlich, dass man dies alles einfach hingenommen hat.
Das gilt für die Israelis genauso wie für Deutsche, Franzosen, Amerikaner,
Engländer, Russen und viele andere Völker. Wenn manche darauf beharren, dass
Terrorismus nur ein Phänomen bestimmter Kulturen oder Religionen sei, so ist es
falsch. Die Behauptung, manche Völker und Kulturen seien „nicht wie wir“, ist
bestenfalls eine korrupte und feige intellektuelle Schutzbehauptung und
schlimmstenfalls purer Rassismus. Die Gewalt ist kein zufälliges Nebenprodukt
von Besetzung, Unterdrückung oder Enteignung, sondern ein ausgewähltes
Instrument dieser Taten und deren Folgen. Die Gewalt kann man nur an ihrer
Wurzel bekämpfen und vollkommen ablehnen. Ein bisschen ablehnen ist genauso
absurd wie ein bisschen schwanger sein.
Es ist an der Zeit, und das
fordert dieses wunderbar klare und ehrliche Buch, es endlich auszusprechen:
Schluss mit der Besetzung, die Palästinenser und Israelis umbringt, respektiert
endlich die Menschenrechte und gewährt allen Würde und Gleichberechtigung. Und
das ist an uns alle gerichtet.
Und darum nennt er sein
Buch Kanaan, weil es im Grunde ein Vorschlag der Versöhnung ist. Nicht Israel
und nicht Palästina, Namen, die mit viel zu viel frischem Blut getränkt sind.
Zurück zum Ursprung, bevor die israelitischen Stämme ins Land kamen, als es noch
Kanaan hieß und jedermanns Land war, der dort lebte. Keine andere Gegend in der
Welt hat die globalen Fragen der Menschheit so beeinflusst – sowohl positiv wie
auch negativ – wie das Land Kanaan. Hier  entstanden die Ideen, die die
Welt verändert haben. Das Land Kanaan war niemals „ein Land ohne Volk“ und
niemand dort hat auf ein „Volk ohne Land“ gewartet. Die Kenntnis der Geschichte
von Land und Volk in Kanaan ist der Schlüssel für den zukünftigen Frieden aller
derzeitigen und vertriebenen Einwohner.
Viele Völker und Reiche
lebten oder regierten in Palästina: die Edomiter, Babylonier, Assyrer, Perser,
Griechen, Armenier, Römer, die Hethiter und Philister und auch die Juden. Das
Königreich Juda existierte 341 Jahre (927-586), das Königreich Israel 205 Jahre
(927-722). Wenn man aber bedenkt, dass das Land schon in 2500 v.Chr. bewohnt
war, dann ist die Herrschaft der Juden, selbst wenn man die 68 Jahre seit 1948
hinzunimmt, ziemlich bedeutungslos, wenn auch durch Erfindung Gottes und des
Judentums wohl die bedeutendste überhaupt.
Aber der zionistische Staat
hat keine Zukunft, es sei denn, er würde sich mit den Bewohnern der Region
verbinden und einen neuen Staat gründen: Den Staat Kanaan.
Aus dem Zusammenbruch des
römischen, osmanischen, spanischen, sowjetischen, deutschen und britischen
Imperiums könnte man viel lernen. Werden Israel und die USA dies noch
rechtszeitig erkennen?
Mazin Qumsiyeh,
KANAAN – gemeinsames Land er Palästinenser und Juden, Zambon Verlag,
Frankfurt 2015, 376 Seiten, Paperback 25.00 € (ISBN 978 3 88975 224 6).

http://der-semit.de/kanaan-gemeinsames-land-der-palaestinenser-und-juden/